Ohne Netz und doppelten Boden - was eine Seilschaukel und die Initiation meines Sohnes gemeinsam haben. Teil 2

Da hing ich nun – einen Meter über dem Boden, im Klettergurt fixiert, mich noch an einem Holzstock haltend. Und ich wusste, wenn ich loslasse, gibt es kein Zurück… 🫨

Doch dazu ein Stück weiter unten mehr.

***

Ich wollte dir ja erst noch vom Initiationsgedanken erzählen.
Wusstest du, dass es bei indigenen Völkern Rituale gibt, die junge Menschen in ihrem Prozess unterstützen, zu selbstverantwortlichen und selbstbewussten Erwachsenen zu werden? Rituale, die den Körper und den Geist gleichermaßen fordern und an ihre Grenzen führen. Rituale, bei denen der junge Mensch fühlt und erfährt, wozu er in der Lage ist und wie gut er sich auf sich selbst verlassen kann.

Manche dieser Rituale klingen in meinen Ohren echt grauselig. Da gibt es zum Beispiel das Ritual mit dem Ameisen-Handschuh: Der junge Mann steckt seine Hände in einen Handschuh voller Ameisen und muss den körperlichen Schmerz ertragen, der ihm durch die Ameisensäure zufügt wird. Wenn du weißt, wie es sich anfühlt, wenn dir eine Ameise in den Schuh krabbelt und in Not gerät, kannst du vielleicht ansatzweise nachvollziehen, wie es sein muss, wenn tausende Ameisen über ein Körperteil herfallen.  
Ein anderes Ritual ist es, den Sohn für eine Woche ohne Essen und Unterkunft in den Wald zu schicken und ihn ganz auf sich selbst gestellt, sein Überleben sichern zu lassen. Für diese lange Zeit natürlich mit dem Wissen aus der Kindheit ausgestattet, dass es in der Natur alles gibt, jedoch dieses Mal ergänzt um die neue Erfahrung, ganz allein zu sein.

Oft sind diese Rituale daran gekoppelt, dass die Jungs danach als Männer den Kreis/das Haus der Mütter verlassen und in den Kreis der Männer/Väter aufgenommen werden. Es ist also offensichtlich eine uns innewohnende alte Weisheit, dass die Zeit der engen mütterlichen Fürsorge und Nähe für die Jungs ein Ende braucht, einen Übergang, eine Initiation zum Mann.

In unserer westlichen Welt, denkst du jetzt vielleicht, gibt es doch z.B. die Konfirmanden-Stunden oder die Jugendweihe-Vorbereitungsseminare mit abschließender großer Familienfeier. Und ja, du hast Recht, auch das ist ein Ritual, eine Tradition, die gekoppelt ist an Werte, an Erkenntnisse, an Gemeinschaftserlebnisse und an das Wissen, dass am Ende das SIE in der Ansprache der Lehrer wartet. So war es zumindest bei mir. Erwachsensein hatte zunächst einmal etwas mit diesem Wort zu tun: SIE.
Doch für mich persönlich fühlte es sich ungelenk an. Ich wollte nie mit SIE angesprochen werden, denn in meinem körperlichen Erleben fehlte die Veränderung. Ich konnte nicht fühlen, wie sich Erwachsensein anfühlt. Ich konnte nur hören, wie es klingt und ich verstand, dass ich plötzlich Verantwortung für große Dinge übernehmen können sollte. Aber wusste ich denn eigentlich schon, was es heißt, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen? Nein!

Heute weiß ich, dass ich für diese Verankerung in meinem Sein auf dieser Erde die Geburten meiner Kinder gebraucht habe. Die unfassbare Kraft, die entstand, als ich direkt an der Grenze zwischen dem neuen Leben und dem Gefühl, diese Schmerzen nicht mehr aushalten zu können, stand. Die Entscheidung, mir und meinem Körper zu vertrauen und die volle Verantwortung zu übernehmen.

Doch welche Möglichkeiten haben meine Söhne? Welche Grenzerfahrung dürfen sie machen in einer Gesellschaft, in der Stöcke geschnitzt aber mit ihnen nicht gekämpft werden darf, in der männliche Kraft gleichgesetzt wird mit Gewalt und in der Männlichkeit meiner Meinung nach zu oft als toxisch gesehen und mit Täterschaft verbunden wird?

Auf der Suche nach einer Antwort, einer Idee für meine Söhne, begegnete mir der WalkAway (im letzten Blogbeitrag habe ich darüber berichtet) als Initiationsritual, das sich in unsere Welt einfügen lässt und das den jungen Menschen (egal welchen Geschlechts) sich seiner Selbst-Bewusst-Sein lässt.

Ein Ritual, dessen Relevanz für die ganze Familie so groß ist, dass ich immer und immer wieder davon erzähle. Mit uns allen – den Eltern, Geschwistern und Großeltern – macht es etwas, wenn ein junger Mensch ganz allein draußen im Wald ist (natürlich nicht ohne Sicherheitsnetz). Für 24h lenkt es unsere Gedanken, lässt uns erschaudern und unser Vertrauen hinterfragen. War alles richtig?

Wer bin ich durch dieses Kind geworden? Und wer will ich in Zukunft für dieses Kind sein?

Während ich in der Küche stand und sein Lieblingsessen für das abschließende Gemeinschaftsbuffet der Familien vorbereitete, konnte ich 16 Jahre Mutterschaft mit meinem zweiten Sohn Revue passieren lassen.  
16 Jahre, die nun zu Maultaschensalat, Rote-Bete-Salat und Zimtschnecken führten 😉
16 Jahre Kennenlernen, Vertrauen lernen, Loslassen lernen.

Jetzt bin ich soweit. Ich spüre nach diesen insgesamt vier Tagen seines Walk Away, einschließlich der 24h Solozeit im Wald, so genau, dass er seinen Weg machen wird. Dass er reif ist, wenngleich noch unerfahren. Und ich fühle unsere stabile Verbindung, auch wenn die symbolische Nabelschnur durchtrennt wurde (auch davon hab ich am Mittwoch erzählt). Er wird seinen Weg gehen und wenn er das möchte, wird er mich fragen, um von meinen Erfahrungen zu profitieren

***

Ich zögere kurz. Dann lasse ich los und schwinge auf der Baum-Seilschaukel 20 Meter über dem Grün der Büsche am Boden. Mein Herz setzt einen Schlag aus, ein kurzer Schrei, dann bin ich im Vertrauen. Die Menschen, das Material, meine Entscheidung, das hier zu tun. Ich vertraue und genieße es, das zu können.

Loslassen und fliegen. 🦅

Und genau das ist es, was ich meinen Kindern vorlebe und wünsche. Mögen sie, wenn der Zeitunkt gekommen ist, im vollen Vertrauen loslassen und fliegen. Mit ihren Flügeln, auf ihren Lebens-Bahnen.

Was brauchst dein Sohn noch von dir, um das zu können? Teile es gern mit mir.

Deine Franziska ♥️